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Lenger/Nünning: „Medienereignisse der Moderne“ – (Parlament)

Von der Februarrevolution über die Apollo-Mission bis zum Irakkrieg: Ein neuer Sammelband geht der Frage nach, wie Ereignisse zu Medienereignissen werden.

Die Rezension, wie sie im Parlament erschien, steht hier,
die komplette Besprechung findet sich hier:

 

 

 

Der Mond als Mattscheibe

von Anne Haeming

Es war bizarr: Da standen Menschentrauben vor Bildschirmen so breit wie zwei Fahrspuren, auf denen andere Menschentrauben zu sehen waren, die in Wirklichkeit nur ein paar hundert Meter vor ihnen standen. Die Menschen unter den Leinwänden reckten ihre Hälse und hielten ihre Fotohandys und Digitalkameras in die Luft. Sie knipsten die anderen auf der Leinwand dabei, wie jene nur ein paar Fußminuten entfernt ebenfalls ihre Fotohandys und Digitalkameras in die Höhe streckten und Bilder machten.
Barack Obama hatte gerade eine knappe halbe Stunde lang eine Rede gehalten, vor der Berliner Siegessäule. Wer an jenem Juliabend zur Straße des 17. Juni gekommen war, versuchte, einen Hauch von Unmittelbarkeit zu erhaschen. Aber statt Live-Erlebnis blieb nur der besagte Blick auf die pixelige Leinwand über ihnen – und deren Abbild. Die TV-Kommentatoren sagten nach der Rede, als alle noch knipsten und blitzten, das Ganze sei ja wohl ein Medienereignis sondergleichen, und da hatten sie ziemlich recht.
„Ereignisse geschehen nicht, Ereignisse werden gemacht“, hält Carola Dietze gleich zu Beginn ihres Aufsatzes im Sammelband „Medienereignisse der Moderne“ fest. Letztere seien „Schlüsselereignisse, die einen Prozess gesamtgesellschaftlicher Kommunikation auslösten“, definiert Herausgeber Friedrich Lenger vom Gießener Zentrum für Medien und Interaktivität. Zusammen mit seinem Kollegen, dem Literaturwissenschaftler Ansgar Nünning, hat er Beiträge über Berichterstattung entlang Februarrevolution, Untergang der Titanic, Olympia 1936 bis hin zum Irakkrieg zusammengetragen.
Einen derartigen Wendepunkt wird die multimediale Verbreitung von Obamas Rede sicher kaum anstoßen, aber das Setting führt dennoch vor Augen, welche Komponenten paradigmatisch sind für die Gattung Medienereignis: Mehrere deutsche Fernsehsender übertrugen den Auftritt, CNN bot online einen Live-Stream an, der Kandidat war überall, und zwar scheinbar zeitgleich. Und dann war da noch das Drumherum, davor und danach, den ganzen Tag schon, mit Reportern, die in ihre Mikros redeten über das, was da noch kommt und gerade war. Sie kommentierten ihre eigene Arbeit. Die Synchronisierung der öffentlichen Wahrnehmung einerseits und der zunehmende Selbstbezug der Medien andererseits ziehen sich durch die vorgestellten insgesamt elf Fälle. Und immer auch, da sind sich die Autoren einig, befeuerten jene Sensationen als Katalysatoren den Status Quo der Medienlandschaft.

Da der Band chronologisch aufgebaut ist, ist die Entwicklung über 150 Jahre umso deutlicher abzulesen, stets gekoppelt an das Fortschreiten der technischen Standards: Während die Kunde vom Erdbeben in Lissabon 1755 erst zwei Wochen später London erreichte, wusste man in Köln 1848 bereits im Laufe von zwei Tagen vom Ausbruch der Pariser Revolution; und als John F. Kennedy 1963 ermordet wurde, war diese Information binnen weniger Stunden um den ganzen Globus gedüst.
Die medialen Meilensteine des Buchs sind geschickt ausgewählt, man kann es nicht anders sagen, und das thematisch sehr breit gefächerte Portfolio der Mediengeschichten ist durchweg erhellend. Dennoch wundert man sich, wieso etwa ausgerechnet der Vietnamkrieg als Beispiel für mediale Instrumentalisierung nicht vertreten ist. Oder wieso der 11. September lediglich in Form von Claus Leggewies – analytisch absolut überzeugender – Untersuchung von Al Qaida als modernem Medienereignis auftaucht, als „Netzwerk der Netzwerke“.

So divers die Aufhänger der Aufsätze auch sind, die politische wie gesellschaftliche Wirkkraft jener medialen Performanz ist durch die Bank unübersehbar. Medien und Politik instrumentalisierten einander von Anfang an, mal explizit gesteuert, mal eigendynamisch – dieser rote Faden macht das Buch so überzeugend. So habe, befindet Rolf Reichardt, erst die mediale Verdichtung der Februarrevolution 1848 mittels Extrablätter und Co., „ihre breite Resonanz und ihren Appellcharakter“, ergo ihren Erfolg, verstärkt. Königin Viktoria, „the first media monarch“, setzte professionell auf die eigene Ikonisierung, um als „Mother of Empire“ bis in die hintersten Winkel der Kolonien präsent zu sein: Das schuf, so Nünning, über ein gemeinsames kulturelles Gedächtnis eine kollektive Identität und den nötigen transnationalen Zusammenhalt. Ein ähnliches Einheitsgefühl, konstatiert Franz-Josef Brüggemeier in seinem Aufsatz, löste auch die Fußball-WM 1954 aus. Besser: Die TV-Übertragung aus Bern, die eine „virtuelle Gemeinschaft“ der Nachkriegsdeutschen formte, man gehörte wieder zusammen.
Der Höhepunkt des Sammelbandes aber widmet sich dem Höhepunkt jener synchronisierten Welt-Zuschauerschaft: der Mondlandung. Die Mondlandung? In der Tat, fein und gewitzt argumentiert der Medienphilosoph Lorenz Engell, wie sich Mondmissionen und mediales Dispositiv gegenseitig bedingten, eingebettet in die Politik des Kalten Krieges. Die Mattscheibe wird bei ihm nicht weniger als der „Inbegriff für einen selbst geschaffenen, künstlichen Mond“.
Die Realität des Mondes im Fenster und auf dem Bildschirm ist notgedrungen zweierlei: „Das Fernsehen – und nicht: der Weltraum – war der Ort, an dem das Apollo-Experiment stattfand“. Live-TV schafft Evidenz, welch Chimäre, man kann es nicht oft genug begreifen. Das bezeugten auch die verwirrenden Szenen rund um Obamas Auftritt. Wer während der Rede hinten stand und nur Bilder von Bildern machen konnte, dem bleibt zumindest eine einende Gewissheit: Man atmete die gleiche Luft.

 

Buch:
Friedrich Lenger, Ansgar Nünning (Hrsg.): „Medienereignisse der Moderne“. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2008; 216 Seiten, 39,90 Euro.

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