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Interview mit Lauren Elkin – (FAS)

Zwischen Selbstbehauptung und Belästigung: Zu Fuß alleine in der Stadt unterwegs zu sein, ist für Frauen anders als für Männer. Lauren Elkin hat der “Flâneuse” nun ein ganzes Buch gewidmet (das leider in der deutschen Fassung ein irreführend pariskitschiges Cover hat). Ein Interview auf einem Spaziergang durchs 10. Arrondissement in Paris.

Die Seite in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“:

Und hier die ganze Fassung:

Lauren Elkin, dann flanieren wir mal los. Was packen Sie ein, wenn Sie durch eine Stadt spazieren?

Lauren Elkin: Ich ziehe bequeme Schuhe an, nehme mein Telephon mit, meine Handtasche, dazu einen Beutel mit einem kleinen Notizbuch und einem Buch. Um vorbereitet zu sein für ein Abenteuer – eines, bei dem ich mich zwischendurch in ein Café setzen kann, um zu lesen. Und anderen beim Flanieren zuzuschauen.

Kein Proviant?

Nein. Ich gehe einfach davon aus, dass ich unterwegs etwas finde. In Paris sowieso. Ich bin ein großer Anhänger der hiesigen Praxis des “goûter”: zwischendurch zu schnabulieren, sich in einer Boulangerie mal eben ein pain au chocolat zu holen.

Wir sind im 10. Arrondissement, nördlich vom touristischen Zentrum. Was für eine Gegend ist das?

Wir sind auf der Rue Faubourg St. Denis. Faubourg meint wörtlich Viertel, eine Enklave, und bezieht sich auf Gegenden, die einst außerhalb der Stadtmauern lagen. Wir sind also in einer Pariser Vorstadt des Mittelalters. Gerade laufen wir auf die massive Porte St. Denis zu.

Ich kam gerade die Straße von Süden hoch, vom Centre Pompidou: Selten wandeln sich Straßen von Block zu Block so extrem.

Die Rue St Denis ist ein fantastisches Beispiel dafür. Auf dieser Straße erlebt man zu Fuß das ganze Spektrum: am einen Ende die Prostituierten in den Hauseingängen, hier Familien aller Hintergründe mit Kinderwägen. Wer wie ich schon 14 Jahre oder länger in der Stadt lebt, für den klingt die Rue St Denis noch immer anzüglich, hart, schmutzig, die Neuen sehen nur den aktuellen Stand der Gentrifizierung.

Der Käseladen dort vorne, der aussieht wie eine Schmuckboutique, existierte damals sicher nicht.

Definitiv nicht. Ich weiß nicht, ob ich mich geändert habe, das Viertel oder beide, aber: Als wir im Sommer hierher zogen, hat es sofort Klick gemacht. Hier passiert so viel, überall eine Vielfalt an Menschen! Ich komme aus Belleville, das überrannt war von jungen anglophonen Hipstern. Aber auch wenn ich das Viertel von früher kenne, ich erschließe es mir erst: Ich bin im September Mutter geworden. Davor war es mir als Hochschwangere zu heiß, nun mit Kinderwagen ist noch alles neu und alles voller Hürden, wenn man Herumkommen will.

Sie haben eine Art Kulturgeschichte über das Flanieren von Frauen geschrieben. Wie kamen Sie selbst dazu?

Als ich 2004 von New York nach Paris zog zum Studieren. Ich kam mir total gaga vor, weil ich einfach herumlaufen wollte, von A nach B. Und dann merkte ich: Warte mal, andere Leute machen das auch gerne. So entdeckte ich die “Flânerie” – und dass sie vor allem Männern überlassen war und letztlich immer noch ist. Zum einen, weil Frauen lange nicht ohne Begleitung draußen unterwegs sein durften. Und weil wir Frauen in der Regel immer gesehen werden auf der Straße. Aber ein Flâneur ist eine Person, die unbemerkt, ignoriert und ziellos umherlaufen kann. Mir ging es darum, genau diesen Platz zu beanspruchen.

Woran fiel Ihnen diese männliche Prägung von Stadtraum erstmals auf? Abgesehen davon, dass hier in Paris oft sogar die Namen der Architekten auf den Hausfassaden stehen.

Als ich Hemingways “Paris, ein Fest fürs Leben” las. Es gefiel mir aus thematischen und ästhetischen Gründen, ich dachte: Wow, er sitzt da einfach im Café und schreibt über sein Leben, die Stadt erlaubt ihm diese Ich-Perspektive. Aber dann beschieb er, wie er dort eine junge Frau beobachtet, die ihm gefällt: “Ich habe Dich gesehen, Du Schöne” und “Du gehörst mir und ganz Paris gehört mir”. Er, der Master von allem! Solche Irritationen häuften sich. Etwa als ich erstmals eines der ältesten erhaltenen Photos sah, eine Straßenszene von Louis Daguerre von 1838, und es zeigt: natürlich einen Mann. Da man damals nur auf Photos sichtbar war, wenn man sich nicht bewegte, muss er also eine Weile an jener Ecke gewesen sein. Natürlich keine Frau, weil sie damals nicht einfach auf der Straße rumstehen konnten; außer vielleicht Prostituierte. Der photographische Blick auf Stadt konnte lange nur Männlichkeit zeigen, keine Weiblichkeit.

Sie folgern daraus, Frauen müssen sich in die Stadt und Straßen offensiv einschreiben. Wie?

Das versuchte ich mit dem Buch. Meine kleine Ecke des Universums besteht aus Literatur und Kunstgeschichte, also schaute ich, wie Frauen ihr Flanieren abgebildet haben: Virginia Woolf, Jean Rhys, George Sand, Agnes Varda, Martha Gelhorn. Aber Literatur, Photographie, alles von der Moderne bis heute, ist so gründlich männlich, dass wir es einfach akzeptiert haben. Baudelaire schrieb über die Stadt, klar – und welche Frauen? Wenn wir das bemerken, fangen wir an zu überlegen, wie man es ändern könnte. Wenn man Vorbilder hat, hilft das. So bestätigten mir die “Street Haunting”-Essays von Virginia Woolf, dass Flanieren keine absurde Beschäftigung ist, sondern Ausgangspunkt sein kann fürs Schreiben. Oder das Projekt der Künstlerin Sophie Calle, die einfach anderen auf der Straße hinterherging: Das fordert mich auf, selbst ein wenig spielerischer zu sein in meinem Straßenzugang.

Und, machen Sie das, anderen hinterherlaufen?

Nein, nein! Sie etwa?

Nein, bislang nicht.

Es wäre ein Wagnis.

Wir sind gewohnt, dass Männer das mit Frauen machen. Es ist gruselig.

Ich würde nicht mögen, dass mir jemand folgt. Ich würde das ungern anderen antun.

Wie flanieren Sie denn?

Meine Technik für “Flaneusing” ist, auch wenn es vielleicht nicht der strikten Definition von Flânerie entspricht: Ich nehme mir ein Ziel vor – und dann laufe ich los, irgendwie dorthin, mit Umwegen und Abstechern, mit all der Zeit, die ich brauche. Das habe ich nach unserem Umzug nur einmal geschafft: mitten in der Hitzewelle, hochschwanger. Als alles, was ich wollte auf der Welt, ein Doughnut war. Also habe ich mich zu diesem einen Laden aufgemacht, der einen 20-Minuten-Spaziergang entfernt liegt.

Flâneure sind auch immer Sachensucher. Was sammeln Sie auf?

Das Konzept des Flâneurs hat sich im 19. Jahrhundert verändert. Manchmal war er der Verlierer, manchmal Betrüger oder Künstler, ein Typ mit zu viel Zeit. Ich wurde zu einer Künstlerinnen-Flâneuse: Ich ging durch Paris, London, Venedig, Tokio, um dann genau darüber zu schreiben. Begleitet von einem Gefühl, wie wenn man Photos macht, erst Recht, wenn sie extra für Instagram gedacht sind: Ich werde das, was ich hier sehe, mit anderen teilen, ich werde es weitergeben. Das lenkt die eigene Aufmerksamkeit ganz anders.

Sie sind gebürtige US-Amerikanerin. Was drückt “flâner” aus, was “to stroll” im Englischen, also rumbummeln, nicht kann?

Wir leihen uns im Englischen tatsächlich das französische Wort. Die USA sind ein Land mit einer starken protestantischen Arbeitsethik, jede Minute des Tages muss gefüllt sein mit etwas Nützlichem. Einfach nur rumlaufen ist geradezu ein Verbrechen, das macht fast keiner. Erst Recht, weil Autofahren die Lebenskultur bestimmt. Ähnlich in Großbritannien, wo ich viel Zeit verbracht habe: Die Menschen dort laufen zwar gerne, aber da geht es dann um Spaziergänge auf dem Land. Müßiggang in der Stadt gilt als kontraproduktiv, sozial unakzeptables Verhalten. Also muss es etwas fancy Französisches sein, um als Konzept überhaupt zu existieren.

Und was bedeutet Gehen für Sie?

Es macht mich frei, ja: befreit. Es bestärkt mich, meine eigenen Entscheidungen zu treffen. Mein Leben so zu gestalten, wie ich es für richtig halte. Ich fühle mich eingeengt, wenn ich an Orte nur mit dem Auto gelange, ich eine Gegend nicht für mich entdecken kann, weil ich auf irgendein Transportmittel angewiesen bin. In Ropongi in Tokio mit all seinen Überführungen, Treppen, Beton, fühlte ich mich ausgeschlossen. Weil sich die Stadt für mich nicht anbot, erlaufen zu werden. Ich rutschte in eine Krise: Wer bin ich, was will ich, was mache ich hier überhaupt? Die Kraft von Gehen für mich ahnte ich damals in New York, als ich von der Suburb an die Uni kam, plötzlich für mich selbst verantwortlich. Das Gefühl, unabhängig zu sein und die Kompetenz zu besitzen, mich – nicht nur geographisch – zurecht zu finden, bekam ich dort auf den Straßen. Ich ging meinen Weg: Es ist auffällig, dass unsere Metaphern rund um Unabhängigkeit so raumbezogen sind.

Für Sie kam die Initiation in der Stadt. Die Freiheit, einen Fuß vor den anderen zu setzen, ist derzeit auch in der Natur omnipräsent: Cheryl Strayeds “Wild”, Abi Andrews’ “Wildnis ist ein weibliches Wort”, Rebecca Solnits “Gehen”, die ganzen Jakobswegpilgerinnen. Was hat es damit auf sich?

Für lange Zeit war das Schreiben über Gehen und Unterwegssein, egal ob in der Natur oder in der Stadt, männlich. Aus irgendeinem Grund gibt es gerade viele Frauen, die sich Wege freigraben in diesem Terrain. Es ist als ob sie sich ein bisschen Raum rauskratzen und dann rutscht das Geröll wieder nach, also fangen sie wieder und wieder von vorne an. Und sie zeigen mit ihrem Schreiben: Wie Du Dich im öffentlichen Raum bewegst, hat etwas damit zu tun, wie Du wahrgenommen wirst. Und unsere “Kultur” tendiert dazu, alles unter dem Standard männlich, weiß, heterosexuell einzuordnen.

Eine Reaktion darauf ist die Debatte um sexuelle Belästigung, darüber wie sicher oder unsicher sich Frauen im öffentlichen Raum fühlen.

Jede geht damit anders um. Manche Frauen genießen es, beachtet zu werden. Nur: Es ist nicht unsere Entscheidung, ob wir gesehen werden. Das ist das Hauptproblem. Wir sollten in der Lage sein, entscheiden zu dürfen, ob wir beobachtet werden. Wir sollten aussehen oder uns verhalten können, wie wir wollen, und uns dennoch sicher fühlen können. Und unsichtbar sein können. Dieses Vorrecht wird uns leider meist genommen.

Wie beeinflusst das Ihr Flanieren?

Wenn ich an einer Gruppe von Typen vorbeigehe, mache mich so klein wie möglich, versuche leicht zu lächeln. Um zu signalisieren: Ich versuche nicht, sexy zu sein oder Eure Aufmerksamkeit zu bekommen, ich will nur einfach an Euch vorbei. Wie viele Frauen habe ich Tricks, um so unsichtbar wie möglich zu sein: mit Kopfhörer, Sonnenbrille oder Sonnenbrille und Kopfhörer. Oder eine Baseballkappe.

So wie heute?

Die trage ich wegen des Regens. Ich wollte keinen Schirm mitschleppen.

Ihr Buch klingt streckenweise wie ein Schlachtruf: “Reclaim the Streets”, erobert Euch die Straßen zurück.

Das stimmt. Bei einer Demo an der Uni in Barnard riefen alle: “Women unite, take back the night!”, also Frauen vereint Euch, holt Euch die Nacht zurück. Eine Aktion, die jedes Jahr überall in den USA stattfindet, um zu zeigen, in welch fragilen Situationen Frauen sind, wenn sie nachts alleine unterwegs sind, belästigt werden. Hier in Frankreich soll es künftig übrigens Bußgelder geben für Menschen, die Frauen auf der Straße belästigen.

Egal ob Mann oder Frau: Flanieren ist ein Privileg. Menschen, die das tun, haben Zeit. Sie müssen nirgendwo sein. Und sie sind nicht mit Rollstuhl oder Kinderwagen unterwegs, nicht körperlich beeinträchtigt, ganz zu schweigen: Das schließt automatisch viele aus.

Genau deswegen muss man sich hinstellen und sagen: Das geht so nicht. Die meisten denken nicht einmal darüber nach, sie müssen dazu ermutigt werden. Dass Flâneuserie das schaffen könnte, wäre mein Ideal. Es ist dabei egal, wer Du bist oder was Dein Hintergrund ist, all das erkennst Du, wenn Du zu Fuß die Viertel erkundest. Ich werde oft gefragt, wie das mit dem Flanieren klappen soll, wenn man nicht die Muße hat oder gefährdeter ist als eine weiße Frau aus der Mittelschicht wie ich. Ich hatte selbst nie Berge an freier Zeit, ich lehrte an der Uni, arbeitete als Übersetzerin und freie Autorin. Mir geht es nicht darum, stundenlang durch die Stadt zu streunen. Sondern vor allem die Details der Stadt zu bemerken.

Und was lernen wir dabei?

Die Ideologie hinter einer Stadt zu verstehen, was ihre Ordnungsstruktur und Oberfläche repräsentiert, welche Stadtplanungspolitik dahinter steckt. Die neuen Pissoirs in Paris sind das beste Beispiel. Moment, wir gehen hier links.

Welche Pissoirs?

Seit diesem Jahr gibt es Pissoirs für Männer, in der ganzen Stadt. Um Männer dazu zu bringen, nicht auf die Straße zu pissen. Es gab einen feministischen Aufschrei: Und wo verdammt noch mal sollen wir Frauen hinpinkeln? Die öffentlichen Toilettenhäuschen sind meistens sehr schmutzig oder es leben darin Menschen ohne Obdach. Es heißt, dass in den Städten die Befreiung der Frauen erst möglich war, als es Damentoiletten in Kneipen und Cafés gab. Erst als wir den ganzen Tag draußen sein und unterwegs auf die Toilette gehen konnten, waren wir in der Lage, frei zu sein.

Nun sind Frauen mit Kinderwägen – und ein paar Väter – deutlich sichtbar auf den Straßen von Großstädten. Zählt das nicht, um sich ins Stadtbild einzuschreiben?

Es ist lustig: Das habe ich erst bemerkt als ich selbst schwanger war. Meine Vorstellungskraft hatte schlicht komplett versagt. Nun als Mutter sehe ich diese weibliche Flâneuserie, die ich mir in der Theorie ausgedacht hatte. Allein die Präsenz von Frauen verändert die Art und Weise, wie die Stadt wahrgenommen wird.

Dazu kommt, dass Paris geradezu auf Schlendern ausgerichtet ist – weil der Einzelhandel mit all den kleinen Läden so stark bleibt. Wie ist das möglich?.

Es ist ein gutes Beispiel für Stadtplanung: Die Kommune fördert die Diversität, schützt kleine Läden gegen Ketten und Monopole. Es ist die Verantwortung einer Stadt, die Atmosphäre zu beeinflussen – und Paris hat beschlossen, diese Familienbetriebe zu behalten. Buchhandlungen werden etwa subventioniert, wenn sie nicht nur Neuerscheinungen anbieten, sondern ein literarisches Profil haben. Die Stadtplanungsaktivistin Jane Jacobs hat es einmal so formuliert: Der Bürgersteig braucht Drama! Das macht eine Stadt lebendig. Damit sich auf ganzen Straßenzügen nicht nur das immer Gleiche wiederholt.

Dafür wiederholen sich die Straßenbilder auf Instagram: Das Bild des Flanierens dort ähnelt sich.

Stimmt, auch wenn Instagram für mich ein großartiges Werkzeug ist, um meine Stadtbeobachtungen mit anderen zu teilen: Es standardisiert das Bild einer Stadt. Und damit werden auch die Erwartungen uniformer: Wenn Du in ein Café gehst, sollte es so und so aussehen. Bei vielen Paris-Profile ist alles gleich: das Licht, die Kaffeetassen, die Törtchen, alle mit dem gleichen Filter. Das finde ich uninteressant.

Wir stehen wieder an der Porte St. Denis, ohne Smartphone, im Hier und Jetzt: Was fällt Ihnen ins Auge?

Die Art und Weise, wie diese Gebäude drumherum gebaut sind: Das hier geradeaus ist wie ein Stück Käse, das dort wie eine dünne Scheibe, das wie ein kleines Flat Iron-Building. Ich liebe, wie die Straßen an diesem Punkt auseinandergehen und wir alle im Blick haben. Es ist wie eine Bühnenkulisse von Paris. Und eine prototypische André Breton-Ecke, die Surrealisten hatten ihre Café-Büros unten an dieser Straße, all die alten Theater waren früher an diesem Boulevard. Ich habe immer das Gefühl, es gibt hier Gespenster.